Die Neuerfindung des Ruhrgebiets: Eine historische Aufarbeitung

Bochum-Wattenscheid. Die jahr­zehnte­lange infra­strukturelle Be­nach­teilig­ung des nörd­lichen Ruhr­gebiets war kein Zufall, sondern das Ergebnis bewu­sster Ent­scheid­ungen. Diese These, vertreten von den Historikern Prof. Dr. Eva-Maria Roelevink und Dr. Lutz Budraß, sorgt seit der Veröffentlichung ihres Buches „Die Macht der Entwässerung“ für Diskussionen. Bei einer Historikertagung und einem politischen Symposium in Wattenscheid wurden nun die Folgen dieser Entwicklung sowie Wege zur nachholenden Wiedergutmachung erörtert.

Historische Verantwortung und strukturelle Benachteiligung

Das Werk von Roelevink und Budraß wirft einen kritischen Blick auf die Gründungsgeschichte der Emschergenossenschaft, die 1899 in Bochum ins Leben gerufen wurde. Eine der zentralen Thesen besagt, dass das Emscher-Gebiet bewusst als Standort für die Kohle- und Stahlindustrie sowie als Wohnort der Arbeiterklasse bestimmt wurde, während sich entlang der Ruhr wohlhabendere Viertel entwickelten. Die Umwandlung der Emscher in eine offene Abwasserkloake sei demnach Teil einer gezielten raumplanerischen Strategie gewesen.

Diese systematische Benachteiligung hatte langfristige wirtschaftliche, soziale und ökologische Folgen für die Region. Doch seit einigen Jahrzehnten wird daran gearbeitet, diese historisch gewachsenen Missstände zu korrigieren. Der groß angelegte Umbau der Emscher, mit dem die Emschergenossenschaft eine nachhaltige Wasserwirtschaft und städtebauliche Erneuerung vorantreibt, gilt als bedeutender Schritt in diese Richtung.

Zukunftsperspektiven: Infrastruktur, Bildung und Nahverkehr

Im Rahmen der Tagung wurde vor allem die Frage diskutiert, welche weiteren Maßnahmen notwendig sind, um das Ruhrgebiet nachhaltig zu transformieren. In der Podiumsdiskussion mit Experten aus Politik, Wirtschaft und Infrastruktur zeichnete sich schnell ein Konsens ab: Die Zukunft der Region hängt maßgeblich von Investitionen in Infrastruktur, Bildung und den Nahverkehr ab.

Dr. Frank Obenaus, Vorstand für Wassermanagement und Technik bei der Emschergenossenschaft, betonte, dass die Institution bereits eine zentrale Rolle spielt:

„Als Wasserwirtschaftsverband können wir infrastrukturelle Grundsteine legen, von Abwasserkanälen über renaturierte Flüsse bis hin zu Hochwasserrückhaltebecken und Radwegen entlang der Gewässer.“

Darüber hinaus setzt sich die Emschergenossenschaft aktiv für Bildungsprojekte und bürgernahe Mitmachangebote ein, um demokratische Partizipation und Umweltbewusstsein zu fördern.

Dr. Frank Dudda (Oberbürgermeister der Stadt Herne und Vorsitzender des Genossenschaftsrates der Emschergenossenschaft) beim politischen Symposium. (Foto: Stephan Tuschy/EGLV)
Dr. Frank Dudda (Oberbürgermeister der Stadt Herne und Vorsitzender des Genossenschaftsrates der Emschergenossenschaft) beim politischen Symposium. (Foto: Stephan Tuschy/EGLV)

Auch Dr. Frank Dudda, Oberbürgermeister von Herne und Vorsitzender des Genossenschaftsrats der Emschergenossenschaft, betonte die Bedeutung gemeinsamer Anstrengungen:

„Egal ob Infrastruktur, Bildung oder Klimawandel – um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, müssen wir über kommunale und institutionelle Grenzen hinausdenken. Wenn das Ruhrgebiet als Ganzes handelt, können wir eine zukunftsgerichtete Transformation bewirken.“

Die Emschergenossenschaft als Motor des Wandels

Die Emschergenossenschaft, die 1899 als erster deutscher Wasserwirtschaftsverband gegründet wurde, ist heute ein zentraler Akteur in der nachhaltigen Entwicklung des Ruhrgebiets. Ihr bekanntestes Projekt, der Emscher-Umbau, brachte zwischen 1992 und 2021 eine grundlegende Modernisierung der Abwasserinfrastruktur mit sich. Insgesamt wurden 436 Kilometer unterirdischer Abwasserkanäle verlegt, vier Großkläranlagen gebaut und 340 Kilometer Flussläufe renaturiert. Parallel dazu entstanden über 130 Kilometer neue Rad- und Fußwege, die das neu gestaltete Gewässernetz erlebbar machen.

Doch der Umbau der Emscher ist nur ein erster Schritt. Die Vision der Emschergenossenschaft geht weiter: Durch die Kombination von nachhaltiger Wasserwirtschaft, sozialer Teilhabe und innovativer Infrastruktur soll das Ruhrgebiet langfristig zu einer lebenswerten und zukunftssicheren Region umgestaltet werden.

Fazit

Die Diskussionen in Wattenscheid haben gezeigt, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit des Ruhrgebiets nicht nur eine historische Notwendigkeit, sondern auch eine politische und gesellschaftliche Aufgabe ist. Der Umbau der Emscher steht sinnbildlich für eine nachholende Wiedergutmachung, die weit über das Wasserwirtschaftsprojekt hinausgehen muss. Die Zukunft der Region wird maßgeblich davon abhängen, inwiefern Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die richtigen Weichen für Infrastruktur, Bildung und Mobilität stellen. Nur so kann das Ruhrgebiet den Wandel von einer historisch benachteiligten Industrieregion zu einer modernen Metropole des 21. Jahrhunderts vollziehen.