Witten. Bewohner des westlichen Teils von Stockum sehen sich zunehmend von der Innenstadt isoliert. Die Linie 371 der Verkehrsgesellschaft Ennepe-Ruhr (VER) bediente die Haltestelle Himmelohstraße 55-mal am Tag. Nun fahren von dort gar keine Busse mehr in die Innenstadt. Verantwortlich für diese Entwicklung ist die baustellenbedingte Sperrung der Straße Bebbelsdorf. Die VER leitet die Linie weiträumig über die Pferdebachstraße um – mit erheblichen Konsequenzen für die Anwohner.
Ein vermeidbares Dilemma?
Besonders brisant: Ein Teil der Fahrten könnte erhalten bleiben. Doch die VER sieht dafür keinen Bedarf. Wittener Politiker und die Stadtverwaltung drängen indes auf eine Lösung. Am 20. Januar 2025 beschloss der Ausschuss für Mobilität und Verkehr einstimmig einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD, der fordert, die Anbindung von Stockum-West über die Linie 371 wiederherzustellen.

Hintergrund: Sperrungen
Seit vier Jahren wird die Straße Bebbelsdorf regelmäßig wegen Leitungsarbeiten und Bergschäden gesperrt – teilweise bis zu 234 Tage pro Jahr. Die Umleitung der Linie 371 sorgt in dieser Zeit für eine erhebliche Verschlechterung des ÖPNV-Angebots im westlichen Stockum. Fahrgäste beschweren sich seit Jahren bei der VER und dem Ennepe-Ruhr-Kreis (Aufgabenträger), jedoch ohne Erfolg. Besonders betroffen sind ältere Menschen, die die 700 bis 800 Meter lange Distanz zwischen den Haltestellen Himmelohstraße und Gerdesstraße als unzumutbar empfinden.

Initiative aus der Bürgerschaft
Die Stockumerin Sabrina Führer, Leiterin der Wittener Bezirksgruppe des Blinden- und Sehbehindertenvereins Westfalen, nahm die Sache selbst in die Hand. Nachdem sie weder bei der VER noch bei der Kreisverwaltung Gehör fand, wandte sie sich an Ralf Stehmann, den Vorsitzenden der Wittener Bürger Gemeinschaft (WBG).
Wittener Bürger Gemeinschaft (WBG)

Stehmann organisierte ein Treffen mit betroffenen Bürgern, Mitarbeitern der Stadt, der Presse und Politikern. Am Donnerstag, dem 9. Januar, sollte es soweit sein. Doch der zuständige Mitarbeiter der Verkehrsgesellschaft sagte das für 10 Uhr anberaumte Treffen um 6:06 Uhr ab. Bei der Verkehrsgesellschaft Ennepe-Ruhr fand sich kein Mitarbeiter, der bereit gewesen wäre, ein Gespräch mit den betroffenen Fahrgästen zu führen.
Stehmann musste alle benachrichtigen, dass das Treffen ausfällt, und stellte sich um 10 Uhr an den Treffpunkt – die betroffene Bushaltestelle. Er war nicht allein. Betroffene Fahrgäste, Politiker und Vertreter der Presse erschienen trotzdem, nur der Mitarbeiter der VER fehlte. Folglich wandte sich Stehmann erneut an die VER und bat um einen Ersatztermin. Mitarbeiter des Planungsamtes signalisierten ihre Bereitschaft, an dem Treffen teilzunehmen, und boten viele Termine an. Die Verkehrsgesellschaft zeigte jedoch keine Bereitschaft, einen einzigen Termin anzunehmen oder anzubieten – dabei blieb es.

Politischer Druck nimmt zu

Bündnis 90/Die Grünen und die SPD reichten am 6. Dezember 2024 einen Antrag ein, in dem sie fordern, dass die Linie 371 auch während der Sperrungen von Bebbelsdorf die Haltestelle Himmelohstraße bedient. Konkret heißt es darin: „Die Stadt Witten setzt sich bei der VER dafür ein, dass während dieser und zukünftiger Sperrungen der Straße Bebbelsdorf die Busse der Linie 371 mit der Endstation ‘Stockumer Bruch Wendeschleife’ die Haltestelle Himmelohstraße weiterhin anfahren.“
Sitzung des Ausschusses für Mobilität und Verkehr (20. Januar)
Andreas Redecker, sachkundiger Bürger der Grünen, hob in der Ausschusssitzung die Notwendigkeit hervor, mobilitätseingeschränkten Menschen den Zugang zur Innenstadt zu erleichtern.
Das Planungsamt habe mehrfach versucht, einen Termin mit der Verkehrsgesellschaft zu vereinbaren, erläuterte Verkehrsplaner Tim Raabe. Bereits nach Antragstellung sei die Stadt Witten tätig geworden, die VER sagte einen Termin im Dezember und zwei im Januar ab. „Wir hätten nichts dagegen, wenn die VER mit der Stadt Witten sprechen würde“, ergänzte Stadtbaurat Stefan Rommelfanger. Der Antrag wurde einstimmig angenommen.
Die Verkehrsgesellschaft sprach auf unsere Anfrage von einem „Missverständnis“. Es wurde ein Termin vereinbart, der aufgrund der Wetterlage („Schneechaos“) abgesagt wurde. Stockum.de liegt die Korrespondenz vor, die die Bemühungen der Politiker und der Stadtverwaltung zeigt. Mindestens auf acht Terminvorschläge für einen Ersatztermin ging die VER nicht ein.
Stadtbaurat greift ein
Stadtbaurat Rommelfanger hat nun ein Treffen mit VER-Geschäftsführer Peter Bökenkötter für Mitte Februar angesetzt. Beide Seiten haben den Termin bestätigt. Für die Bewohner des westlichen Stockum bleibt nur die Hoffnung, dass dieses Mal keine Schneeflocken die Gespräche zunichtemachen.
Stellungnahme der VER an die Bezirksregierung Arnsberg
Zuständig für die Bus-Konzession in unserer Region ist die Bezirksregierung Arnsberg. Auf Anfrage der Aufsichtsbehörde führt die VER folgende Gründe für die Auslassung der Haltestelle „Himmelohstraße“ an:
Durch die Streckenänderung der Busse mit dem Ziel „Stockumer Bruch“ (20 Fahrten am Tag) würde nach der Prüfung der VER eine
„spitze Ankunft und Abfahrt an der Haltestelle Stockumer Bruch Wendeschleife“
entstehen. Der Bus würde an der Wendeschleife ankommen und sofort wieder abfahren müssen. Nach dem geltenden Fahrplan hat der Bus an der Wendeschleife eine Minute Wendezeit und fährt dann zurück nach Witten. Die VER befürchtet eine
„Gefährdung der Fahrplantreue bei den Rückfahrten in Richtung Witten-Innenstadt“.
Unerwähnt von der VER bleibt jedoch, dass der Bus durch die Umleitung in Richtung Innenstadt einen kürzeren Linienweg hat. Pausen werden entweder an den Ersatzhaltestellen „Helfkamp“ oder „Liegnitzer Straße“ oder an beiden Haltestellen eingelegt, um an den folgenden Haltestellen nicht zu früh anzukommen.
Relativ geringe Frequentierung der Haltestelle „Himmelohstraße“ (Linie 371 in Richtung Innenstadt): durchschnittlich 1,2 Einsteiger und 0,2 Aussteiger pro Fahrt.
Gäbe es die Umleitung nicht, würde die Haltestelle „Himmelohstraße“ laut Fahrplan von der Linie 371 in Richtung Innenstadt 52-mal und in Richtung Stockum/Dortmund 55-mal am Tag bedient werden. Es ist zu vermuten, dass die Fahrgäste auch wieder zurück nach Hause fahren und dort aussteigen. Das bedeutet, dass von der Umleitung täglich etwa 75 Fahrgäste in jeder Fahrtrichtung betroffen sind.
Die VER empfiehlt ihren Fahrgästen die Nutzung der Linie 373, die 15-mal am Tag verkehrt. Anders als früher kommuniziert, gesteht das Verkehrsunternehmen nun die langen Umsteigezeiten ein – bei fünf Fahrten sogar bis zu 25 Minuten. Früher betonte die VER lediglich die guten Umsteigezeiten von 3 bis 8 Minuten in Richtung Innenstadt, verschwieg jedoch die langen Wartezeiten während der Rückfahrt sowie eine Bedienpause der Linie 373 von 90 Minuten.
„Die VER hält die eingerichtete Umleitungsstrecke weiterhin für richtig und möchte aus den genannten verkehrlichen und betrieblichen Gründen daran festhalten. Aufgrund des Alternativangebotes auf der Linie 373 ist eine ÖPNV-Anbindung des Bereiches ‚Himmelohstraße‘ in und aus der Richtung Innenstadt (mit einem Umstieg) weiterhin gegeben. Ferner rechtfertigen die Fahrgastzahlen an der Haltestelle ‚Himmelohstraße‘ die umgesetzte Maßnahme. Durch die Linie 373 ist ein Verkehrsangebot (mit Umstieg) vorhanden.”
Zweierlei Maß

Die Entscheidung der Verkehrsgesellschaft Ennepe-Ruhr (VER), die Haltestelle Himmelohstraße nicht zu bedienen, wirft grundlegende Fragen zur Daseinsvorsorge im öffentlichen Nahverkehr auf. Während mit der neuen Direktverbindung zur Technischen Universität Dortmund den Studierenden ein Komfortgewinn ohne Zeitersparnis ermöglicht wird, bleiben die Bedürfnisse einer besonders auf Barrierefreiheit angewiesenen Gruppe weitgehend unberücksichtigt. Dies steht in auffälligem Widerspruch zum gesetzlichen Auftrag der VER, den öffentlichen Verkehr im Einklang mit den geltenden Vorschriften sicherzustellen. Dass eine bedienbare Haltestelle aus subjektiver Einschätzung heraus nicht angefahren wird, könnte nicht nur eine Missachtung der Betriebspflicht darstellen, sondern auch ein besorgniserregendes Signal für die Prioritätensetzung im Nahverkehr senden.
Vergleich zur Umleitung am Sonnenschein
Ende Juli 2024 richteten die Stadtwerke Witten am Sonnenschein eine Baustelle ein. Die Bogestra-Linie 379 bediente den Ortsteil nur stadteinwärts. Fahrgäste kamen leicht in die Innenstadt, doch auf dem Heimweg sollten sie an der Langendreerstraße in den Bus in der Gegenrichtung umsteigen. Fahrgäste protestierten, nach einer Woche wurde die Busumleitung fahrgastfreundlich gestaltet. Der Bus fährt seitdem den Ortsteil wieder an.
In Stockum bemühen sich die Fahrgäste der Linie 371 seit vier Jahren um eine fahrgastfreundliche Lösung, doch ihre Bitten bleiben ungehört. So unterschiedlich kann die Herangehensweise der Verkehrsunternehmen an die Bedürfnisse ihrer Kunden sein.