Witten neu entdecken: Der Lange Abend der Stadtgeschichte öffnet Türen zu vergessenen Zeiten

Witten. An diesem Samstagabend (27.9), war die Innenstadt von Witten kein gewöhnlicher Ort. Zwischen Rathausplatz, Märkischem Museum und Haus Witten wurde Geschichte nicht nur erzählt, sondern erlebt. „Lesser-known places“ – weniger bekannte Orte und Themen – lautete das Motto des ersten „Langen Abends der Stadtgeschichte“, den das Stadtarchiv unter seinem neuen Leiter Dr. Thomas Urban gemeinsam mit Heimatvereinen aus Annen, Bommern und Stockum und dem Verein für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark (VOHM) organisierte. Ziel der Veranstaltung: Geschichte sichtbar machen – dort, wo sie sonst im Verborgenen schlummert.

Alte Schätze und neue Ideen: Ein Stadtarchiv öffnet sich

„Mit dem Langen Abend wollen wir neue Themen präsentieren und Witten aus neuen Perspektiven zeigen“, erklärt Dr. Urban im Gespräch. „Das Format besteht aus offenen Häusern, Ausstellungen, Führungen und einem zentralen Abschluss im Haus Witten. Wir wollen weniger bekannte Orte und Geschichten in den Mittelpunkt rücken – von den Bächen an der Ruhr über die frühen Industriewurzeln bis hin zu ganz persönlichen Stadtgeschichten.“

Tatsächlich führte der Weg viele Besucher*innen zunächst in die Räume des Vereins für Orts- und Heimatkunde an der Husemannstraße. Hier lagern, gut geschützt in Metallschränken, jahrhundertealte Dokumente, Urkunden und Bücher – stille Zeugen einer bewegten Stadtgeschichte.

„Wir haben hier wahre Schätze“, sagt Vereinsvorsitzender Prof. Dr. Hiram Kümper, während er behutsam ein vergilbtes Buch aus dem 16. Jahrhundert aufschlägt. Es handelt sich um die „Cosmographia“ des Humanisten Sebastian Münster, eines der bedeutendsten Werke der frühen Geschichtsschreibung. Daneben zeigt Kümper ein kaiserliches Siegel von 1753 und eine auf Pergament geschriebene Urkunde von Kaiser Franz, die Witten die Gerichtsrechte verleiht.

Ein besonderes Stück ist ein sogenannter Schutzbrief von Tilly, ausgestellt vom berüchtigten Feldherrn des Dreißigjährigen Krieges. „Er versprach darin, Witten zu verschonen und nicht niederzubrennen“, erklärt Kümper mit einem Schmunzeln. „Das zeigt: Weltgeschichte spielte sich auch hier ab – mitten in Witten.“

Spiele, Tanz und digitale Choreografien: Geschichte trifft Gegenwart

Doch der Abend war nicht nur ein Schaulaufen für Historikerinnen. Vor dem Saalbau verwandelte sich der Platz in eine Bühne für experimentelle Formen der Geschichtsvermittlung. Jüngere Besucherinnen probierten ein virtuelles Tanzspiel aus, bei dem historische Choreografien für höfische Bälle auf Smartphones dargestellt wurden – Bewegungen, deren genaue Schritte heute verloren sind, aber deren räumliche Abläufe rekonstruiert werden konnten.

„Diese Tänze wurden immer zu zweit getanzt“, erklärt Julie, die das Projekt mitentwickelt hat. Teilnehmer*innen scannen einen QR-Code und folgen dann einer Linie auf ihrem Smartphone-Display. Doch die Umsetzung war kniffliger als gedacht: „Ich finde es schwierig, gleichzeitig auf der Linie zu bleiben und meine Partnerin nicht aus den Augen zu verlieren“, sagt Manta Mayer, die das Spiel ausprobiert. Ein Tanzpaar folgt jeweils einem eigenen Muster und wenn sich ihre Wege am Anfang und Ende kreuzen, entsteht ein Bingo. Die Wege führten teils quer durch den Platz – und nicht selten auch mitten durch Kunstwerke im öffentlichen Raum. „Hier kommt man nicht durch“, lacht Mayer, als ihre virtuelle Linie sie direkt in eine fünf Meter hohe Edelstahlinstallation von Gerlinde Beck führt.

Trotz kleiner Hindernisse war der Spaß groß. „Ich habe zwar verworren getanzt, aber immerhin ein Bingo bekommen“, freut sich Katie Glathe. Und Mayer zieht ein positives Fazit: „Es war toll. Beim nächsten Mal wäre es spannend zu sehen, wie genau wir tatsächlich gelaufen sind.“

„Fragen über Fragen“: Die Stadt als Spiegel der eigenen Identität

Neben Spielen und historischen Exponaten gab es auch Raum für Reflexion. Das Ensemble X, ein Performance-Kollektiv, lud Passant*innen auf dem Vorplatz des Saalbaus zu ungewöhnlichen Interviews ein.

„Wir stellen keine Wissensfragen, sondern wollen die persönliche Beziehung der Menschen zu ihrer Stadt herauskitzeln“, erklärt Beáta Nagy. „Was wäre Witten, wenn es ein Mensch wäre? Hätte es ein Geschlecht? Wo würde sein Herz schlagen?“

Die Wittener*innen zeigten sich auskunftsfreudig, wie Nina Gilfert berichtet: „Ich hatte viele schöne Gespräche – über Zuhause, öffentliche Räume und darüber, wo sich Menschen in Witten wohlfühlen.“ Die Antworten sollen später als Inspiration für neue Performances dienen.

Geschichte ganz nah: Heimatvereine erzählen vom Wandel

Im Haus Witten, dem zentralen Veranstaltungsort des Abends, präsentierten sich schließlich zahlreiche Heimat- und Geschichtsvereine. Einer von ihnen war der Heimat- und Geschichtsverein Bommern e.V..

„Wir zeigen die Entwicklung unseres Stadtteils in den letzten 150 Jahren“, sagt Vorsitzender Klaus Wiegand. „Es gibt zwar keine Massenandrang, aber das Interesse ist groß.“ Für die Zukunft wünscht sich Wiegand jedoch eine klarere Struktur: „Zu viele Veranstaltungen laufen parallel. Es wäre sinnvoll, sie besser zu trennen, damit jede ihren Raum bekommt.“

Ein Anfang mit Zukunft

Für Dr. Thomas Urban ist der erste Lange Abend der Stadtgeschichte ein Erfolg – und vor allem ein Auftakt. „Wir hoffen, daraus eine Veranstaltungsreihe zu machen“, sagt er. „Ob mit Führungen, Ausstellungen oder neuen kreativen Formaten – unser Ziel bleibt es, unbekannte Orte und Themen sichtbar zu machen und die Geschichte dieser Stadt lebendig zu erzählen.“ Witten hat an diesem Abend gezeigt, wie vielfältig und vielschichtig seine Vergangenheit ist – und wie sie sich mit neuen Ideen in die Gegenwart holen lässt. Zwischen vergessenen Urkunden, digitalen Tanzschritten und persönlichen Stadtgeschichten wurde klar: Geschichte ist nicht nur das, was war. Sie ist das, was wir heute daraus machen.

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